Interessante Entdeckung: Vor Kurzem stieß ich zufällig auf eine wissenschaftliche Ausarbeitung über einen ganz banalen Tippfehler.
Während eines Lektorats kam mir das Wort „Pruritis“ unter. Was soll denn das, fragte ich mich. Allein zweimal tauchte dieses Wort in einem kurzen medizinischen Artikel über BRP auf. BRP steht für brachioradialen Pruritus. Pruritus. Also nichts mit Entzündung von irgendetwas, was ja die Endung -itis verheißt. Juckreiz also. Ganz banal. Ein schnöder Tippfehler.
Bei meiner kleinen sich anschließenden Recherche machte ich eine spannende Entdeckung: Alan B. Fleischer, ein Dermatologe vom Kentucky Collage of Medicine in den USA, hatte offensichtlich einige Zeit vor mir dieselbe Entdeckung zur Orthografie von Pruritus gemacht. Nur: Er hatte Anfang Dezember 2015 intensiver als ich nach dem falsch geschriebenen Fachwort für Juckreiz, „Pruritis“, recherchiert. Und in dem Zuge veröffentlichte er auch gleich seine PubMed-Suchergebnisse in der Fachzeitschrift Acta Dermato-Venereologica [1]. Ich war so begeistert von seiner Publikation, dass ich ihn anschrieb, ihm dankte und ihm mitteilte, dass ich seine Ergebnisse hier in meinem Blogartikel liebend gern veröffentlichen würde. Er – ein offensichtlich sehr humorvoller Mensch – antwortete mir:
„Thank you for being one of the few people in the world to have read this manuscript in the Acta. […] Thanks again for reading, and thanks for being from a country that knows how to spell ‚pruritus‘.“
So sympathisch! Wenn ich an seine E-Mail zurückdenke, muss ich immer noch in mich reinlachen. Aber nun Spaß beiseite. Werden wir wieder wissenschaftlich. Wer wissen möchte, was Herr Dr. Fleischer genau herausgefunden hat, lese einfach weiter.
Inhaltsverzeichnis
Auftreten des Wortes Pruritis [sic!] zwischen 1916 und 2015
Wie konnte es passieren, dass von sämtlichen medizinischen Publikationen, die seit 1916 in der PubMed-Datenbank veröffentlicht wurden, 149-mal1 das lateinische Wort für Juckreiz falsch geschrieben veröffentlicht wurde? 149-mal „Pruritis“ versus 17.377-mal „Pruritus“. Dass sich Autoren vertippen, ist keine Schande, doch warum wurden die Fehler dann nach dem Verfassen des Textes nicht beseitigt? Es gibt doch Rechtschreibkorrekturprogramme! Die ersten seit den frühen 1980er Jahren hatte Fleischer recherchiert; seit 1995 auch integriert in Microsoft Word [1]. Gut, 1916 gab es noch keine Computer und erst recht keine Rechtschreibkorrektursoftware, die dem Schreibenden (mögliche) Fehler anzeigten. Aber warum stiegen die „Pruritis“ enthaltenden Publikationen ab 2010 deutlich an (Abbildung 1, [1]), wo doch sicherlich die Programme eher besser geworden sind als schlechter? Ein Grund für den Anstieg der Fehlerquote zur rechten Schreibung von Pruritus dürfte daran liegen, dass forschende Mediziner heftiger in die Tasten gehauen haben als zuvor. So hat die Anzahl an Publikationen in den letzten Jahrzehnten drastisch zugenommen. Jedes Jahr wächst PubMed um rund 500.000 Dokumente, steht bei Wikipedia [2].
Meine Suche nach „Pruritis“ bei PubMed am 17.11.2019 ergab übrigens mittlerweile schon insgesamt 332 Volltreffer. Davon entfielen 140 auf die letzten 5 Jahre; 23-mal erschien dieser Tippfehler allein im Jahr 2018.
Fleischer machte die nur bedingt hilfreiche Intelligenz der Rechtschreibprogramme dafür verantwortlich, dass so viele Fehler übersehen werden. Aber auch das Auge der Reviewer der verschiedenen Journals schien ja die Rechtschreibfehler zu übersehen. Warum? Fleischer führt in seiner Veröffentlichung an, dass es etwa 1.000 Wörter mit der Endung „-itis“ gäbe, nur etwa 20 würden auf „-itus“ enden, wie zum Beispiel Detritus, Habitus, Situs und Tinnitus. Also sei viel wahrscheinlicher, dass ein Wort mit „-itis“ ende als mit „-itus“ [1]. Sowohl die PC-Programme als auch die Reviewer scheint daher „Pruritis“ einfach zu überlesen.
Tippfehler von Medizinern, egal ob Student oder fertig ausgebildeter Arzt, scheinen an der Tagesordnung zu stehen. Und er, Fleischer, zitierte in dem Zusammenhang zwei Publikationen, in denen die Analyseergebnisse zur Fehlerdichte in patientenbezogenen Dokumenten vorgestellt wurden: Hersh et al. aus dem Jahr 1997 [3] und Turchin A et al. aus dem Jahr 2007 [4].
Ein kleiner Trost: Veröffentlichungen aus Deutschland beinhalteten laut Fleischers Recherche nicht ein einziges Mal das Wort „Pruritis“ – wobei aber Autoren aus Deutschland immerhin 5 % aller Artikel verfassten, die das Wort Pruritus, korrekt also, enthielten [1]. Spitzenreiter in der Falschschreibung seien vor allem die Englisch sprechenden Länder wie die USA, Indien, Großbritannien, Kanada und Australien (Abbildung 2, [1]).
Fazit: Am besten gleich Tippfehler vermeiden
Was lernen wir daraus? Nicht allein auf die Rechtschreibprogramme verlassen! Sie können zwar helfen, Fehler zu eliminieren, ja, das meinte auch Fleischer. Aber die medizinische Nomenklatur sei so komplex, dass immer ein paar Wörter falsch geschrieben stehen bleiben würden, wenn man nicht aufpasst. So viel medizinisches Wissen stehe uns zu Verfügung, mehr denn je – „so we are entrusted to writing it correctly“, schloss Fleischer in seinem Artikel [1].
[1] Fleischer AB. Increasing Incidence within PubMed of the Use of the Misspelling „Pruritis“ (sic) Instead of „Pruritus“ for Itch. Acta Derm Venereol 2016; 96: 826–7
[2] Wikipedia. „PubMed“, accessed November 17, 2019. Available from: https://de.wikipedia.org/wiki/PubMed
[3] Hersh WR, Campbell EM, Malveau SE. Assessing the feasibility of large-scale natural language processing in acorpus of ordinary medical records: a lexical analysis. Proc AMIA Annu Fall Symp 1997: 580–4.
[4] Turchin A, Chu JT, Shubina M, Einbinder JS. Identification of misspelled words without a comprehensive dictionary using prevalence analysis. AMIA Annu Symp Proc 2007; 11: 751–5.
1 PubMed zeigte tatsächlich 152 Publikationen mit „Pruritis“ an. Allerdings konnten in einer von ihnen „Pruritis“ nicht im Text gefunden werden [1] – also ist der Algorithmus von PubMed auch nicht das Gelbe vom Ei –, und zwei Male betraf die Quelle ein Buch. Letzteres soll hier mal außen vor gelassen werden. Also waren es 149 Publikationen, die de facto in Fleischers Statistik einflossen [1].
Die Abkürzung sic (lateinisch für sic erat scriptum) heißt übrigens so viel wie „so stand es geschrieben“.